Stonehenge ist ein altes archäologisches Wunder, welches über einen Zeitraum von 1000 Jahren errichtet wurde. 25t schwere Steine wurden über 40 km Distanzen transportiert, um ein Monument zu errichten, das die Zeiten überdauern sollte. Wir können nicht mit Sicherheit sagen, wie die Verantwortlichen all das geschafft haben und wir können auch nicht all ihre Beweggründe rekonstruieren. Doch eines wissen wir mit Sicherheit: Die Megalithen von Stonehenge sind exakt so aufgestellt, dass man mit ihnen die Sonnenwende vorhersagen konnte. Bis zum Moment der Dämmerung.
Neugier als Grundkonstante
Dieses Wissen-Wollen, das Streben nach Erkenntnis, stellt eine Grundkonstante der menschlichen Existenz dar. Keine Spezies neben Homo Sapiens hat sich je in annähernd vergleichbarem Maße um ein Verständnis der Welt, ihrer Regeln und Gesetzmäßigkeiten bemüht. Der Drang nach Wissen und seine produktive Anwendung ist unsere evolutionäre Nische, Erkenntnis und Innovation die Treiber unseres Fortschritts. Sie sind es, die die Entwicklung unserer Spezies zu einer Erfolgsgeschichte gemacht haben und einem immer weiter wachsenden Teil der Weltbevölkerung ein Leben in (bescheidenem) Wohlstand, frei von Krankheit und Hunger ermöglichen.
Doch ist diese Entwicklung nicht selbstverständlich gewesen: Trotz aller Neugier war unser Wissenszuwachs lange Zeit marginal – durch Naturkatastrophen, Kriege oder auch nur einen schlichten Brand konnte einmal Entdecktes auf Jahrhunderte hinaus verloren gehen. Aberglaube regierte, nur die Wenigsten waren des geschriebenen Wortes mächtig und selbst die Gelehrten jener Tage waren Kinder ihrer Zeit – Ideen konnten über Jahrhunderte hinaus als etablierte Lehrmeinung gelten, selbst wenn sie ihrer Wirkung nach hochgradig schädlich waren oder offenkundig einer empirischen Überprüfung nicht standgehalten hätten, wovon insbesondere die wechselvolle Vergangenheit der Medizin ein lebendiges Zeugnis ablegen kann. Autorität trumpfte m Zweifelsfall jedes Argument.
Die Entdeckung neuen Wissens war somit eher ein zufälliger Glücksfall als das Ergebnis strukturierter Suche. Doch dies begann sich im Spannungsfeld von Tradition und Empirie am Beginn der Neuzeit langsam zu ändern: Althergebrachte Wahrheiten wurden zunehmend hinterfragt, Naturphilosophen wie Francis Bacon und Galileo Galilei begründeten die rigorose Überprüfung von Hypothesen durch Experimente und der Buchdruck ermöglichte eine nie zuvor gesehene Verbreitung neuen Wissens. Medizin, Chemie, Physik, Kosmologie, Mathematik – sie alle erlebten ein nicht gekanntes Wachstum, während unsere Kenntnis der Welt immer schneller zunahm und das Fundament einer Gegenwart legten, deren Leistungen wohl jenseits der Vorstellungskraft jedes dereinst als Gelehrt geltenden liegen.
Moderne Wissenschaft
Die Anwendung unseres Verstandes enthüllte, dass die Berichte von Wundern oftmals fragwürdig und die Urheber heiliger Schriften nur allzu menschlich waren. Die Natur wirkt ohne Rücksicht auf das Wohl und Wehe der Menschheit und kein Opfer ist in der Lage sie zu befriedigen. Den großen Denkern jener Zeit zeigte jene Flucht aus dem Reich von Ignoranz und Aberglaube, wie fern der Tatsachen vormals als unumstößlich geltende Weisheiten liegen konnten und dass es gewisse Werte und Methoden – Skeptizismus, das Bewusstsein der eigenen Fehlbarkeit, offene Debatte und empirische Überprüfung – sind, welche demgegenüber ein verlässliches Paradigma bilden, mit dem verlässlich Wissen geschaffen werden kann. Dieser Wandel ist der Beginn der Geschichte der modernen Wissenschaft. Wie die Geschichte aller menschlichen Ideen ist es eine Erzählung von naiven Träumereien, Hartnäckigkeit und ungezählten Fehlern. Gleichsam ist die Anwendung der wissenschaftlichen Methode eine der wenigen menschlichen Aktivitäten (wahrscheinlich die einzige), in welcher ebendiese Fehler systematisch kritisiert und letztlich mit der Zeit korrigiert werden können.
Die Wissenschaft lernt durch ihre Fehler – mit jedem einzelnen schreitet sie voran und erweitert unser Wissen über die Welt. Sie ist damit der Archetypus jedes Fortschrittsgedankens und für uns den Humanismus aus einer individuellen und gesamtgesellschaftlichen Perspektive von zentraler Bedeutung: Denn nur wenn wir uns von der Vorstellung verabschieden, dass unsere bisherigen Ansichten über die Welt vollkommen korrekt sein müssen und uns stattdessen systematisch darum bemühen, die Schwächen unserer Sichtweisen zu ergründen, sind wir in der Lage unser Verständnis der Dinge zu erweitern und aufeinander zuzugehen.
Rationalität als Lebenspraxis
In der individuellen Lebenspraxis ist die logische Konsequenz dieser Einsicht das Bekenntnis zum rationalen Diskurs. Rationalität heißt hierbei nicht mehr als das Bewusstsein, dass es wichtiger ist Neues zu lernen, als in alten Überzeugungen bestätigt zu werden – nicht, indem man schlicht die Meinung eines Anderen übernimmt, sondern stattdessen bewusst vernünftige Kritik an den eigenen Ideen und Vorstellungen als Geschenk akzeptiert, welches man anderen im gleichen Maße zu teil werden lassen sollte, mit dem Ziel, dem korrekten Verständnis der Realität einen Schritt näher zu kommen. In diesem Sinne könnte man auch sagen, dass Rationalität die Fähigkeit darstellt, die eigenen Ansichten darauf zu optimieren, dass sie mit der tatsächlichen Beschaffenheit der Welt konvergieren. Im offenen Austausch sollten rationale Menschen deshalb nie das Ziel aus den Augen verlieren, zu verstehen, auf welcher faktischen Basis eine Meinungsverschiedenheit letztlich fußt und durch welche neuen Informationen man sie aus der Welt schaffen könnte, so schwierig dies oftmals auch scheinen mag.
Das gilt in einer Zeit der immer stärkeren Lagerbildung und Antagonisierung im besonderen Maße für die politische Sphäre, denn unser größter Feind ist letztendlich kein politischer Widersacher, sondern allem voran unsere gemeinsame Unwissenheit – ein Mangel an Sicherheit darüber, wie wir am besten die Probleme lösen, die uns plagen. Diese Einsicht ist das Fundament eines liberalen Minimalkonsenses, welcher jeden akzeptiert, der prinzipiell bereit ist, seine Sichtweise auf der Basis neuer Fakten zu verändern. Verschwörungstheoretiker, die sich mit ihren geschlossenen Weltbildern gegen Kritik immunisieren, entziehen sich den Grenzen des rationalen Diskurses dabei ebenso wie Ideologen, die eine inkrementellen Verbesserung des Status Quo bar jeder empirischen Fundierung zu Gunsten der radikalen Transformation der Gesellschaftsordnung verwerfen. Aus der Einsicht unserer Fehlbarkeit erwächst Skepsis gegenüber unfundiertem Utopismus und Fundamentalismus, die in der Geschichte der Menschheit zu viele Opfer gefordert haben.
Wir sitzen alle im selben Boot und gemeinsam über bessere Lösungen nachzudenken, hilft jedem mehr, als sich gegenseitig über absolute Wahrheitsansprüche zu streiten, sich gegenseitig zu bedrohen oder gar Kriege zu führen. Stattdessen haben wir nur Hypothesen, mit denen wir der Wahrheit und einer besseren Welt stets näher zu kommen versuchen, Fehlschlag um Fehlschlag, Schritt um Schritt.