Die menschliche Existenz ist verwirrend und befremdlich. Wir sind das Ergebnis einer evolutionären Dynamik, die genauso gut auch anders hätte verlaufen können. Gleichzeitig ist dieser kleine blaue Planet, auf dem sich unsere Existenz abspielt, nur einer von Myriaden anderen in einer ewigen Schwärze, deren Ausdehnung sich unserer Vorstellungskraft entzieht. In der Natur gilt die simple Regel: Der besser Angepasste überlebt – eine grausame Welt des ewigen Kampfes. Leid und Elend waren stets die Begleiter eines Lebens, welches irgendwann enden sollte.
Der Mensch – eine Erfolgsgeschichte?
Und trotzdem ist die Geschichte unserer Spezies eine Geschichte des Erfolgs. In den wenigen hunderttausend Jahren, die Homo Sapiens diese Erde bevölkert, haben wir das Antlitz unseres Planeten verändert wie kein Lebewesen jemals zuvor. Die Untiefen der Meere haben wir erkundet, die höchsten Gipfel erklommen. Durch den menschlichen Erfindergeist und unsere ewige, unstillbare Neugierde ist das Leben heute angenehmer, länger, friedfertiger und vielseitiger als zu irgendeinem Zeitpunkt in der Geschichte. Wir wissen so viel mehr als unsere Vorfahren und wo uns die Mysterien des Kosmos vor ein Rätsel stellen, sind wir zuversichtlich, es irgendwann gelöst zu haben. Und wenn nicht wir, dann unsere Kinder und Kindeskinder.
Es existiert ein Licht in der Schwärze des Universums – und dieses Licht sind wir.
Doch
wo Licht ist, ist auch Schatten. Unser Streben nach Fortschritt und
Erkenntnis brachte uns nicht nur die Pockenimpfung, das Flugzeug und den
Computer. Zwei Weltkriege, geführt mit Artillerie, Giftgas und
Massenbombardements mündeten in den Konflikt des kalten Krieges und
seiner Androhung der gegenseitigen Vernichtung durch die Macht der
Atombombe. Die Auswirkungen eines terroristischen Anschlages, welcher
sich wirkungsvoller Biologischer Waffensysteme bedient, sind kaum
auszumalen (1).
Die Digitalisierung ermöglicht autoritären Staaten die Etablierung
einer umfassenden orwellianischen Kontrolle der gesamten Gesellschaft (2). Und nicht zuletzt warnen namhafte Wissenschaftler (3) und Experten (4)
zunehmend vor den Risiken, die die Fortschritte im Feld der künstlichen
Intelligenz für alles Leben auf unserem Planeten bedeuten könnten.
Eine lange Tradition
Alles, was nicht durch die Naturgesetze verboten ist, ist möglich, hinreichendes Wissen vorausgesetzt. Was wir daraus machen, ist letztlich uns überlassen. Die Idee, das Gedeihen (flourishing) der Menschheit, also Leben, Gesundheit, Glück, Freiheit, Wissen, Liebe, Erfahrungsreichtum und Sinn, in den Mittelpunkt unserer Bemühungen zu rücken, nennen wir Humanismus. Es ist der Humanismus, welcher das Sollen gibt, das das Sein wissenschaftlicher Erkenntnis ergänzt. Die Humanistische Tradition des Denkens ist dabei mehr als 2.500 Jahre alt. Sie findet ihre Anfänge in der Antike, deren Ideen von den Renaissance-Humanisten aufgegriffen wurden und in den Ideen der europäischen Aufklärung kulminierten. Es war nicht zuletzt der Gedanke des Humanismus, der die englische, französische und amerikanische Verfassung und die ihnen niedergelegten Grundrechte inspirierte und damit die Grundsteine für die Ideale der Vereinten Nationen und der Allgemeinen Deklaration der Menschenrechte legte. Menschen wie Sokrates, Epikur, Cicero, Erasmus von Rotterdam, Galilei, Voltaire, Hume, Bentham, Kant, Feuerbach, Mills, Darwin, Galton, Rawls oder Russell haben die Welt verändert. Der Vertrag über die Europäische Union (5) ist Zeugnis dieser Bedeutung des Humanismus. Schon in der Präambel wird die kulturelle Tradition benannt, auf die sich die Europäische Union bezieht: „Schöpfend aus dem kulturellen, religiösen und humanistischen Erbe Europas, aus dem sich die unverletzlichen und unveräußerlichen Rechte des Menschen sowie Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit als universelle Werte entwickelt haben (…)“
Der moderne Humanismus
Der Humanismus im 21. Jahrhundert ist eine wachsende Bewegung, die unzählige Individuen und Gruppen in allen Teilen der Welt vereint. Seine Ziele und Sichtweisen sind in drei Manifesten formuliert worden, das erste aus dem Jahre 1933. Das aktuellste Manifest (6) entstammt dem Jahre 2003 und wurde unter anderem von 22 Nobelpreisträgern unterzeichnet. Es beinhaltet sechs zentrale Punkte, die das Wesen des Humanismus im Kern erfassen:
- Wissen über die Welt entsteht durch Beobachtung, Experimente und rationale Analyse
- Der Mensch ist ein integraler Bestandteil der Natur, das Ergebnis eines nicht zielgeleiteten, evolutionären Prozesses.
- Ethische Werte erwachsen aus menschlichen Bedürfnissen und Interessen auf Basis von Erfahrung.
- Ein Erfülltes Leben entsteht aus dem Dienst des Einzelnen an humanen Idealen.
- Der Mensch ist ein soziales Lebewesen, welches Sinn in Beziehungen findet.
- Teilhabe an der Verbesserung der Gesellschaft ist der Weg zu individuellem Lebensglück.
Die Internationale Humanistische und Ethische Union (IHEU; engl. International Humanist and Ethical Union) als Zusammenschluss von über 150 nichtreligiösen humanistischen und säkularen Organisationen in mehr als 40 Ländern definierte in der Amsterdam-Deklaration (7) eine Liste von Werten, die nahezu vollständig mit den genannten sechs Punkten übereinstimmen. Ihre Minimaldefinition spricht dabei vom Humanismus als einer „demokratische[n] und ethische[n] Lebenseinstellung, welche die Ansicht vertritt, dass [alle] Menschen das Recht und die Verantwortung haben, ihrem eigenen Leben Sinn und Form zu geben. Er steht für den Aufbau einer menschlicheren Gesellschaft durch eine Ethik, die auf menschlichen und natürlichen Werten im Geiste der Vernunft und der freien Meinungsbildung durch menschliche Fähigkeiten basiert. Er ist nicht theistisch und akzeptiert keine übernatürlichen Sichtweisen auf die Realität.“
Humanismus, Religion und Spiritualität
Auch wenn der Humanismus keine Götter, Geister oder Seelen bemüht, um Sinn und Moral zu fundieren, ist er in keiner Weise als Inkompatibel zu religiösen Institutionen zu sehen: Religionen aus dem asiatischen Kulturraum (darunter Konfuzianismus und Spielarten des Buddhismus) haben ihre Ethik seit jeher auf menschlichen Bedürfnissen anstelle göttlicher Diktate begründet. Zahllose christliche und jüdische Denominationen haben sich in den letzten Jahrzehnten einer zeitgemäßen und weltlichen Interpretationen ihrer heiligen Schriften und Traditionen angenähert und zeigen in ihren Überzeugungen starke Überschneidungen mit dem Humanismus.
Auch Spiritualität ist mit einem humanistischen und rationalen Weltbild vereinbar, wie insbesondere der jüngere Diskurs gezeigt hat: Einflussreiche humanistische Autoren und Intellektuelle wie Sam Harris (8), Thomas Metzinger (9) oder Michael Schmidt-Salomon (10) plädieren in ihren Schriften für die Anerkennung des und Auseinandersetzung mit dem Mystischen und Spirituellen im Kontext unseres immer weiter wachsenden Wissens über die Welt und die Funktionsweise unserer neurologischen Prozesse.
So spricht Metzinger davon, dass sowohl Spiritualität als auch rationales Denken bzw. Forschen vom Streben nach „intellektueller Redlichkeit“ getragen werden. Rationale Denker und spirituelle Menschen eint, so Metzinger, der Wille „zur bedingungslosen Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit sich selbst gegenüber“. Sie wollen sich nicht von Illusionen blenden lassen, nicht einfach glauben, was man schon immer geglaubt hat, sondern die kulturellen Vorurteile beiseiteschieben, die den Blick auf die Wirklichkeit behindern.
Humanismus in Deutschland
Die Bundesrepublik ist ein konfessionell heterogener Staat. Schon seit jeher war die Spaltung in einen protestantischen Nordosten und einen katholischen Südwesten ein Alleinstellungsmerkmal Deutschlands im europäischen Kontext, doch durch die zunehmende Säkularisierung des Landes hat sich in den vergangenen Jahrzehnten eine wachsende Gruppe herausgebildet, jene der keiner Religion Zugehörigen: 2016 gehörten bereits 36,2% der Bevölkerung keiner Religionsgemeinschaft an (11), während gleichzeitig die Kirchenmitgliedschaften fallen (12). Ein steigender Anteil der Konfessionsfreien identifiziert sich dabei mit einem humanistischen Weltbild.
Weiterhin ist der Humanismus in Deutschland geprägt von einer lebendigen Fest- und Feierkultur: Zahlreiche Vereine organisieren jedes Jahr Jugendweihen und Jugendfeiern, welche den Übergang von Kindheit und Jugend in das Erwachsenenleben im Alter von 14-15 Jahren festlich zelebrieren. Organisationen wie der Humanistische Verband Deutschlands unterhalten Kinderkrippen und Kindertagesstätten mit humanistischem und reformpädagogischem Konzept. Rund 55.000 Schülerinnen und Schüler nehmen derzeit am humanistischen Lebenskunde-Unterricht teil, der in Berlin, Brandenburg und Bayern durch den HVD durchgeführt wird.
Der Verband bietet weiterhin Sterbe- und Trauerbegleitung an und vermittelt Trauerredner. In Berlin gibt es ein stationäres Hospiz sowie einen ambulanten Hospizdienst, einen Kinderhospizdienst und einen interkulturellen Hospizdienst. Um kranken, benachteiligten oder geistig wie körperlich eingeschränkten Menschen Unterstützung und gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen, betreibt der HVD Sozialstationen, Pflegedienste und Demenzwohngemeinschaften sowie Besuchs- und Mobilitätshilfedienste. Auch in der Obdachlosenhilfe ist der Verband aktiv.
Dank des hohen Engagements zahlloser Individuen pflegen die diversen humanistischen Organisationen zudem ein vielfältiges Verbandsleben. So existieren mehr als 50 Regional- und Hochschulgruppen der Giordano Bruno Stiftung (gbs) und zahlreiche Lokalgruppen des HVD und anderer Organisationen. Neben geselligen Treffen werden Ausstellungen, Lesungen, Vortragsreihen, Diskussionen und Bildungsreisen organisiert, in denen Fragen der humanistischen Welt- und Lebensauffassung im Vordergrund stehen.