Wenn Menschen sich heutzutage im Namen ihrer Weltanschauung das Leben nehmen und schlimmstenfalls andere mit in den Tod reißen, wirft dies selten gestellte Fragen auf: Ist eine Idee es wert, für sie zu sterben? Oder gar andere für sie sterben zu lassen?

Ein gewisses Maß an Irritation und Unbehagen können wir friedliebenden Demokraten bei derlei Gedanken kaum verhehlen: Die Vorstellung, den Triumph der eigenen politischen Ziele und Ideale über das Leben von anderen Menschen, Mitbürgern gar, zu stellen, ist uns in unserer aufgeklärten Zeit, die die Ideale eines vermeintlichen Heroismus zu Gunsten einer freiheitlichen Grundordnung hinter sich gelassen hat, glücklicherweise fremd geworden.

Doch diese Moderation ist ein historisch junges Phänomen. Vor weniger als 100 Jahren, als Europa sich gerade von den Verheerungen des bis dato größten Kriegsgräuels der Menschheitsgeschichte zu erholen begann, prallten politische Gegensätze aufeinander, die sich nicht mehr nur als Kontrahenten oder Gegner, sondern als Feinde betrachteten. Kommunisten, Demokraten, Monarchisten und (Proto-)Faschisten trugen einen blutigen Kampf um die Ideen aus, welche die Zukunft der Nachkriegszeit prägen sollte.

Ideen über Menschen stellen

Eine beiläufige Notiz jener Konfrontationen im Konflikt der Visionen trug sich am 15. Juni 1919 zu, als eine Gruppe von kommunistischen Jugendlichen von der lokalen Parteileitung der KP Wien zur Polizeistation in die Hörlgasse geschickt wurde. Dort waren mehrere Parteimitglieder inhaftiert und die 20 Jugendlichen sollten Druck machen, die Genossen idealerweise befreien. Naive Ideen, die Jungen waren unbewaffnet. Doch als sie ins Gebäude einzudringen versuchten, eröffneten die Polizisten das Feuer. Acht der Jungkommunisten starben.

Einen der Überlebenden hieß Karl Raimund Popper. Ihn prägten die Ereignisse jenes Tages nachhaltig. Er war entsetzt vom brutalen Vorgehen der Polizei, doch nicht minder schockierte ihn die berechnende Perfidie, mit der die kommunistische Partei wissentlich unerfahrene Menschen in eine derartig gefährliche Situation gebracht hatte.

Die Genossen hatten den Idealismus und die Naivität der Jugend ausgenutzt und Poppers Freunde mussten dies mit ihrem Leben bezahlen. Und wofür? Für eine Idee. Für das größere Wohl, für die klassenlose Gesellschaft, für den Kommunismus. Er stellte sich die gleichen Fragen, die wir uns heute im Angesicht von Terroranschlägen, Geiselnahmen und zahllosen anderen Formen politischer Gewalt stellen: Sollte der Preis einer politischen Überzeugung wirklich das Leben von Menschen sein? Konnte die Verheißung einer besseren Welt den Tod rechtfertigen?

Historische Irrwege

Die Geschichte liefert uns mannigfaltige Beispiele von Gesellschaften, die Ideen über Menschen stell(t)en und die Fragen, die Popper in der Folge jener schrecklichen Erfahrung stellte, wirken wie ein antithetisches Präludium jener Ära der Extreme, welcher von der Oktoberrevolution 1917 bis zum Fall der Berlin Mauer 1989 reichte. Wie viele traten in jenen Jahren an das Paradies auf Erden zu schaffen, hießen sie nun Lenin, Stalin, Hitler, Mao, Kim oder Pol Pot? Und wie viele Menschen mussten diesen ideologischen Wahn, das quasireligiös-eschatologische Streben nach der dem Himmel auf Erden im Sinne der eigenen Weltanschauung mit ihrem Leben bezahlen?

Diese kollektivistisch-holistischen Gesellschaften sind mit wenigen bedauernswerten Ausnahmen heute von der Landkarte verschwunden. Als Sieger sind die demokratischen Staaten der westlichen Welt aus dem 20. Jahrhundert hervorgegangen. Diese Staaten sind, zumindest in der Theorie, Verkörperungen des Ideals der „Offenen Gesellschaft“, wie Popper sie in seinem Werk „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ beschreibt: Im Gegensatz zu den ideologisch festgelegten „Geschlossenen Gesellschaften“ ist in ihnen der freie und intellektuelle Meinungsaustausch möglich und wird durch die Staatsgewalt garantiert.

Die offene Gesellschaft…

Die offene Gesellschaft muss sich ändern und anpassen können. Daher sind Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit sowie eine strikte religiöse Neutralität von grundlegender Bedeutung für sie. Institutionen sind zwar unumgänglich, müssen sich in Offenen Gesellschaften aber einer ständigen Kritik stellen und stets verbessert werden können. Der Staat soll eine Grundversorgung sichern, vor allem aber eine Gesellschaftsstruktur ohne die Herrschaft von abgeschlossenen Eliten ermöglichen. Popper schlägt dabei als ethische Handlungsmaxime statt der Maximierung des Glücks das bescheidenere Ideal der Minimierung des Leidens vor.

Als Humanisten sagen wir mit Churchill ganz eindeutig: Die demokratisch verfasste, offene Gesellschaft ist die schlechteste Gesellschaftsform der Welt – neben all jenen, die wir sonst bereits ausprobiert haben.

Und ihre Feinde

In einer an Barbarei und Krieg nicht armen Geschichte stellt sie den bisherigen Höhepunkt des Strebens nach bestmöglicher kollektiver Organisation unseres Zusammenlebens dar. Sie ist wertvoll, jedoch, wie die Vergangenheit gezeigt hat, fragiler, als es zu manchen Zeiten den Anschein haben mag. Dies macht sie zu einem fundamentalen, bewahrens- und schützenswerten Gut, welches niemals flüchtigen Moden der Tagespolitik geopfert werden darf. So gibt es nach wie vor radikale Gruppen und Ideologien, welche der offenen Gesellschaft selbst den Krieg erklärt haben und denen entschlossen entgegenzutreten gilt, ganz gleich ob an den Grenzen zu oder in der Mitte unserer Gesellschaft. Uneingeschränkte Toleranz führt mit Notwendigkeit zum Verschwinden der Toleranz. Niemand hat dies je treffender formuliert als Popper selbst:

„Denn wenn wir die unbeschränkte Toleranz sogar auf die Intoleranten ausdehnen, wenn wir nicht bereit sind, eine tolerante Gesellschaftsordnung gegen die Angriffe der Intoleranz zu verteidigen, dann werden die Toleranten vernichtet werden und die Toleranz mit ihnen.

Wir sollten daher im Namen der Toleranz das Recht für uns in Anspruch nehmen, die Unduldsamen nicht zu dulden. Wir sollten geltend machen, dass sich jede Bewegung, die Intoleranz predigt, außerhalb des Gesetzes stellt, und wir sollten eine Aufforderung zur Intoleranz und Verfolgung als ebenso verbrecherisch behandeln wie eine Aufforderung zum Mord, zum Raub oder zur Wiedereinführung des Sklavenhandels.